Zeit für ein bisschen ehrlich sein: Machen wir uns die unterschiedlichen Startbedingungen klar. Wir wollen doch alle ans Ziel.
Gleiches Recht für alle – auf diesen Grundsatz können wir alle uns einigen. Doch langsam frage ich mich, ob damit zu viel Wischiwaschi einhergeht. Denn selbst wenn wir als Menschen in einem Rechtsstaat vor dem Recht gleich sind, die Lebensbedingungen sind es nicht. Dies hat vor zwei Jahren ein kurzer Film veranschaulicht, in dem Jugendliche in den USA zu einem Wettrennen aufgerufen wurden: Zu gewinnen waren 100 Dollar, doch zu Beginn las der Schiedsrichter Kriterien vor. Traf jeweils eines zu, durften die Teenager zwei Schritte Vorsprung nehmen, zum Beispiel wenn die Eltern noch verheiratet waren, man mit einem Vater aufgewachsen war, Zugang zu privaten Bildungsangeboten hatte, den Eltern nie beim Bezahlen von Rechnungen helfen musste und sich nicht fragte, woher das nächste Essen kommt.
An der Startlinie lichtete sich das Feld. Diese Privilegien verliehen einigen Läufer*innen einen uneinholbaren Vorsprung vor anderen. „All das hat nichts mit dem zu tun, was ihr getan habt“, rief der Schiedsrichter. Es wurde dann ein ziemlich trauriges Rennen.
Dass also mit dem reinen Postulieren von Gleichheit nicht unbedingt ein Blumentopf zu gewinnen ist, leuchtet ein. Den wichtigen Unterschied zwischen Gleichheit als „Equality“ und Fairness oder Gerechtigkeit als „Equity“ hat übrigens die Aktivistin Samantha Renke in einer Instagram-Gallery wunderbar herausgearbeitet: Eine Schuhgröße passt kaum jedem. „Wir sind nicht alle auf dem gleichen Spielfeld“ schreibt sie. Für Menschen mit Behinderung zum Beispiel gebe es das „Disability Price Tag“, die negativen Stereotype und unbewussten Vorurteile. Wichtiger sei es, sich auf die gleichen, eben universellen Rechte zu verständigen und bei der Frage der Verteilungsgerechtigkeit dann vor allem den Blick auf die Kontraste des Zugangs und der Möglichkeiten zu lenken. Also: nicht davon auszugehen, dass weil alle vor dem Recht gleich sind sie auch das gleiche brauchen, sondern die unterschiedlichen Startpositionen auf dem Feld anzuerkennen. Darunter setzt sie das Hashtag „#TargetedUniversalism“.
Was ist das? Eben ein Universalismus, der zielgerichtet vorgeht. Der sich all der Vorsprünge bewusst wird und überlegt, wie die für andere ausgeglichen werden können. John Powell von der Berkeley Universität erklärt das in seiner Podcastfolge so: Targeted Universalism, oder gezielter Universalismus bedeutet zwar universelle Ziele zu setzen die für alle gelten. Die Strategien, wie diese Ziele erreicht werden, unterscheiden sich jedoch zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Eben je nachdem, an welcher Startposition sie sich im Wettrennen befinden. Für Menschen, die ohne Behinderung leben, bedeutet es, sich dem zu stellen. Dass Strategien, die für sie vielleicht funktionieren, eben nicht für jeden gleich funktionieren. Auch den Gefühlen stellen, die vielleicht ablehnender sind, als man denkt.
Die Autorin Eszter hat auf Instagram einen kleinen Bericht geschrieben, wer und wo nicht mitgedacht wird, zum Ausnahmefall erklärt wird, Ablehnung erfährt. Wer von uns kennt sie nicht, die Erfahrungen auf dem Spielplatz der Kindheit – die Zurückweisung, das Ignorieren oder das bewusste Wegziehen anderer nicht behinderter Kinder durch ihre Eltern, wie es Eszter beschreibt. Hier hilft nur Bewusstsein auf der einen Seite.
Und auf der anderen Seite müssen sich Menschen mit Behinderung dieses toxischen Verhaltens erwehren, indem sie, wie es die Bloggerin Brandy vorschlägt, auch Bindungen kappen. Denn die eigene psychische Gesundheit ist schützenswert, um es vornehm auszudrücken. Brandy hat auf Instagram zehn Arten von Gaslighting aufgeschrieben: Wege, durch die einem vorgemacht wird, was man erfahre, das sei nicht real. „Leider erfahren wir Menschen mit Behinderung dies allzu oft“, schreibt sie. Für sie sei ein Verhalten ein klarer Hinweis auf Gaslighting, wenn sie sich bei einer Person unterbewertet und nicht unterstützt fühle. Sie nennt Beispiele: „Warum dreht sich alles um deine Behinderung? Du siehst nicht behindert aus. Du musst nur positiver sein. Was du durchmachst, kann so schlimm nicht sein…“ Und, und, und.
Dies führt uns zurück zum zielgerichteten Universalismus. Verständigen wir uns alle auf die Ziele. Verständigen wir uns über den strukturellen Ableismus. Und wie wir uns davon befreien – ob ohne Behinderung oder mit.
9 Antworten zu “Auf das Ziel kommt es an”
Guten Abend Raul Krauthausen, einen verfälschten Wettbewerb würde ich nicht wollen, habe ich nie gewollt, ich konnte mich aber locker machen, wenn ich die Ehrenurkunde bei den Bundesjugendspielen nicht gekriegt habe und auch das Nichterreichen der Siegerurkunde machten mir nichts aus, trotzdem wurde einmal eine für mich erstellt, ich sollte mich auch mal über eine Urkunde freuen, was ich aus Freundlichkeit tat. Es war ja nicht böse gemeint, aber von mir aus hätte es nicht gemusst. Da war mir Frau Rönnfeld lieber, Sportlehrerin, Realschule. Ich hatte immer fürchterliche Angst am Stufenbarren über den oberen Barren zu springen, vom unteren Barren aus. Es dauerte und dauerte, mir wurde kalt, Frau Rönnfeld, die Hilfestellung anbot, blieb ruhig, und wartete ab, ich kam aus der Nummer aber nicht heraus, die anderen Kinder hatten Respekt vor Frau Rönnfeld und auch vor mir, schon deshalb, weil Frau Rönnfeld ganz klar demonstrierte, dass es nichts komisch zu finden gab an meiner Zögerlichkeit. Irgendwann sprang ich, Frau Rönnfeld freute sich, ich freute aus Freundlichkeit mit, wohl wissend, dass ich beim nächsten Mal die gleiche Angst haben würde. Wichtig war, wie Frau Rönnfeld mich mitmachen lassen hat, selbstverständlich, ohne herum zu diskutieren, warum Gabi so lange auf dem Barren steht. Es gab keinerlei Hänseleien nichts, Frau Rönnfeld war mir ansonsten nicht mehr zugewandt als den anderen Kindern, das hätte vielleicht Probleme gegeben. So aber funktionierte das sehr gut. Ich mochte Sport nie, aber Frau Rönnfeld habe ich als einer der fähigsten Inklusionsexpertinnen in Erinnerung. Toller Mensch, klarer Charakter.
Guten Morgen Raul Krauthausen, Lockdownverschärfung, geplante Ruhetage, ich bin gespannt, was im Abgeordnetenhaus noch heraus kommt, wiewohl ich dann schon weg bin zu Mutter. Auf das Ziel kommt es an, stimmt schon, ich möchte Inklusion und wenn die gar nicht erreicht wird, wäre das schlecht. Aber kann das Ziel inklusiv erreicht werden, ohne den Weg inklusiv zu nehmen? Ich denke, nein, das wäre unlogisch. Ich kann kein gemeinsames Ziel erreichen ohne einen gemeinsamen Weg. Vielleicht wünschen sich heute manche wieder so einen wie Heinz Zellermeyer, der 1949, nach einem, so wird es in Ilse Zellermeyers „Prinzessinnensuite“, Aufbauverlag Berlin 2010, erinnert, Zechgelage mit dem amerikanischen Stadtkommandanten General Frank Howley, dafür gesorgt haben soll, dass der zunächst eher zögerliche Polizeipräsident West-Berlins Dr. Johannes Stumm, dann doch die partyfeindliche Polizeisperrstunde aufgehoben habe. Den britischen Stadtkommandanten habe man allerdings nicht überzeugen können, ein „Puritaner“ sei dieser gewesen, so die Einschätzung Ilse Eliza Zellermeyers. Heinz Zellermeyer ging ab und zu auch den parlamententarischen Weg, für die CDU, dies auch schon im Jahr 1949, aber nicht in dieser Sache. Später wünschte sich Heinz Zellermeyer, das erinnere ich aus einer Sitzung des Abgeordentenhauses in den 60er Jahren einen Überblick über die Infrastruktur Berlins, wo Bauten stehen, Tankstellen etc. ein SPD-Abgeordneter reagierte darauf genervt, nach 20 Jahren mache man das jetzt nicht. Die Idee fand ich aber persönlich gut. Wer war britischer Stadtkommandant? Da die Sperrstunde im Juni 1949 faktisch aufgehoben wurde, könnte es Generalmajor K. G. Bourne gewesen sein, der wohl im Januar Otway Herbert abgelöst hatte, laut Wikipedia überlappen die Amtszeiten um eine Woche?? Von 1946 bis 1990 hätten alle Stadtkommandanten in der Villa „Lemm“ gewohnt. Wieso wendete sich Heinz Zellermeyer nicht an das Abgeordnetenhaus Berlin mit seinem Wunsch in dem Fall?
Richtig war es nicht, finde ich – und so möchte ich das in der Gegenwart auch nicht geregelt wissen, auch nicht, wenn es so wäre, wie Heinz Zellermeyer gesagt haben soll, laut Ilse Eliza Zellermeyer, S. 142/143: „Solange ein Gast in der Kneipe etwas zu trinken bekommt, verlässt er sie, von Ausnahmen abgesehen, friedlich und gesittet. Der Krawall entsteht doch erst, wenn der Wirt „Schluss“! ruft und die Besoffenen auf die Straße gesetzt werden.“
Mag etwas dran sein, aber ich bin trotzdem für Parlamentarismus.
Ilse Eliza Zellermeyer erinnerte, dass Joachim Ludwig 1956 “ das große Konzertexamen mit Franz Schuberts abgeschlossen und eine erfolgreiche Konzertlaufbahn begonnen [habe], die ihn über die Goethe-Häuser nach Asien, Amerika und Australien“ reisen lassen hatten. (S. 167) In London, im Picadilly Hotel schrieb Jean Genet ein Jahr später einen Brief an seinen Herausgeber Marc Barbezat, es ging darum, wo seine Theaterstücke aufgeführt werden könnten, Berlin war auch dabei, damit gehe ich später gerne zum Tagesspiegel.
Herzliche Grüße und trotz Sperren, und wir wissen ja noch nicht ganz genau welche, eine gute Zeit.
Ich bin seit 2018 voll erwerbsgemindert, darf max 3 Stunden pro tag arbeiten laut Gutachten. Der Gutachter hat sich nur halbe Stunde Zeit genommen kaum Fragen gestellt, die ganze Zeit im Affenzahn etwas in sein Diktiergerät gebrabbelt und dabei meine Krankenunterlagen durchgebättert, um dafür mehrere Tausend Euros zu verdienen. Seit 2000 chronisch psychisch krank und immer durchgekämpft. Jetzt absolut ausgebremst. Wollte bis 6 Std pro Tag arbeiten können. Vor der Begutachtung habe ich ja sogar vollzeit gearbeitet mit 45 Min fahrzeit mit Auto.
naja egal angenommen jetzt mal es hat alles seine Ordnung. Warum darf ich damit dann Vollzeit arbeiten im 1. Arbeitsmarkt mit Übergangsgeld (120€ mehr als jetzt 400 € zum Leben (ohne Versicherung und Miete eingerechnet)) wenn ich wollte (in einem Berufsbildungsbereich, der mein einziger Weg in den ersten Arbeitsmarkt wäre in einer zweijährigen Maßnahme) oder in einer Behindertenwerkstatt??? Wieso darf ich im geschützen Rahmen Vollzeit (!) arbeiten, wenn mir nur max 3 Stunden Belastbarkeit zugemutet wurde per Gutachten.
das ist doch verlogen. Größter Nachteil ist, dass ich trotz Hochqualifikation im IT Bereich nur noch für Hungerlohn arbeiten darf/muss.
Guten Tag Raul Krauthausen, besten Dank noch einmal für den Beitrag. Dank Stefan Jacobs vom Tagesspiegel, der heute im Tagesspiegel Checkpoint u.a. darüber schreibt, dass das Finanzministerium in einigen Jahren vielleicht umziehen wird und heute schon an verschiedenen Stellen untergebracht ist, bin ich noch einmal hier, denn ich muss auch an Umzüge von Schulen und deren mehrere Standorte denken – in manche Standorte kam man inklusiv hinein, in andere nicht, die hübschen Altbauten sind ein Problem gewesen, Treppen, Schwellen, enge Durchgänge. Wenn wir uns nun auf gleiche „Ziele“ verständigen, ohne die Hürden aus den Wegen zu räumen, bleibt die Umsetzung doch wieder nur für diejenigen, die es ohne Behinderung in die Häuser schaffen, wo immer sie stehen. Ich kommentiere später wieder zur Zeit Kurt von Schleichers, werde mich mit dem Ostpreußendamm 111 befassen, da war früher mal die Charite untergebracht, in den 70ern, und noch früher das Kalisyndikat. Es gab sogar den „Bibliothekar und Leiter des Literarischen Büros“ Paul Krische. Jetzt könnte ich mich ja freuen und denken – die Bibliothek steht auch nebenan, aber, wie ich beim Bundesarchiv lese, müsste ich doch bis Bad Salzungen – ist ok, macht doch Spaß, zu verreisen.
Man muss nur das Geld haben und es muss möglich sein, Treppen rauf und runter zu laufen, Bad Salzungen ist auch sehr hübsch, aber schwer zu erreichen. Und wieder könnten wir uns sehr schön auf gemeinsame Ziele verständigen, aber ich wäre die, die ins Original-Buch guckt, Sie nicht, Raul Krauthausen – wir sind aber nicht in allen Punkten unterschiedlichen Behinderungen ausgesetzt. Was Sprache angeht, sind wir gleich auf, Sie und ich, bildungsmäßig auch – aber Kinder sind es nicht, je jünger, je weniger, das ist klar – sie müssen aber die Chance bekommen, Barrieren zu überwinden, ohne mit Keulen und Geschrei auf die Barrikaden zu müssen. Welche Kulturhäuser brauchen sie und wie sollen sie beschaffen sein, um Inklusion zu ermöglichen?
Darüber würde ich gerne mit allen debattieren.
Besten Dank Raul Krauthausen und einen schönen Mittwoch.
Guten Tag Raul Krauthausen, besten Dank wieder einmal für „Auf das Ziel kommt es an“, den kurzen Film, der im Beitrag verlinkt ist, ist nicht zu öffnen, es ist ein „privates Video“, um es öffnen zu können müsste ich mich via Google anmelden. Sehr viele Videos sind öffentlich verfügbar, obwohl sie auch private Videos sind, andererseits gibt es für öffentliche Filme und Tonbeiträge auch den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk. Dieser ist ebenfalls auch bei Social Media präsent und es gibt ein laufendes Verfahren zur Höhe der Rundfunkgebühren (früher GEZ-Gebühren) vor dem Bundesverfassungsgericht, Sachsen-Anhalt wo letzten Sonntag die CDU einen fulminanten Wahlsieg davon trug, mit einigem Abstand gefolgt von der AfD auf Platz 2, hatte sich gegen die Erhöhung der Gebühren ausgesprochen und geklagt. Schon die Möglichkeit, dass die Rundfunkgebühren doch nicht erhöht werden könnten, habe zur Kündigung von Tarifverträgen mit Mitarbeitern geführt, so berichtete der Tagesspiegel, das Deutschlandradio habe bereits tarifvertraglich mit Kündigung reagiert.
Für die Mitarbeiter- und Mitarbeiterinnen im Medienbereich wird es immer schwieriger, wie in vielen anderen Arbeitsbereichen auch. Wenn gespart wird, wird am Personal gespart und so tritt auch das Inklusionsziel, dass nicht zum Nulltarif zu haben ist, in weitere Ferne.
Kurt von Schleicher war „Monarchist“, mochte er möglicherweise noch Gutes für alle Menschen gewollt haben, um alle Menschen gekümmert hat er sich wohl nicht, auch nicht als Reichskanzler, „Inklusion“ dürfte gar nicht erst in sein Hierarchiegefüge gepasst haben, was ihn aber nicht besonders von anderen Politikern unterschied. Seine Idee, der Rundfunk dürfe nicht Parteien überlassen bleiben, war richtig, die Idee, ihn jedem Bürger/jeder Bürgerin zu überlassen, dürfte dem Antidemokraten andererseits vollkommen fremd geblieben sein. Der Kampf kurz vor Hitlers Machtergreifung betraf nicht nur den Wettbewerb um das Militär, sondern auch den Wettbewerb darum, wie dasselbe aussehen sollte, wie es sich anhören sollte, wie seine „Wahrheit“ veröffentlicht werden sollte.
Wer dabei sein wollte brauchte ein „Ticket“, so wie ich für den kurzen Film, der hier verlinkt ist. Für die Berlinale braucht man auch ein Ticket, das wird oft vergessen – man kann Ziele mit allen vereinbaren, aber dann kommt die Ticketfrage.
„Kino für Jedermann“ habe es 1932 auch im Erdgeschoss des Voxhauses Berlin geheißen, die Tickets wurden in Staaken hergestellt.
Wieviel Kultur gehört allen, wie viel soll auf dem privaten Markt gehandelt werden? Eine Frage die Kampfbereitschaft erzeugt, heute wie damals. Inklusion ist hart umkämpft.
Guten Morgen Raul Krauthausen, heute früh gerne noch einmal zu Ihrem Beitrag „Ein Grundrecht auf Bäh“, dank Tagesspiegel Checkpoint wieder zum „Kino“ und ihren Machern. Studieren gehört ja auch zur Kultur, ist sogar sehr wichtig, finde ich.
Was ist das Inklusionsziel im Akademischen? Meines Erachtens der gleichberechtigte Zugang, um studieren zu können, wenn man das will.
Zu dem Ziel komme ich aber ganz bestimmt nicht, wenn ich Akademiker herunter putze, diese hätten ja ihren Abschluss nur mit „Glück“ – das bringt doch nichts! Klar hat jeder auch mal Glück, das gehört jawohl dazu, aber „Glück“ hat auch nichts mit dem Behinderungsgrad zu tun, das hat man mal und hat man auch mal nicht.
Im Studium muss man schon noch arbeiten, das gilt für jeden und die Abschlüsse werden nicht ein paar Privilegierten einfach so hinterher geschmissen. Das ist die Rede der „Wutbürger“, die es in ihrem Leben nicht gelernt haben, über sich selbst zu reflektieren, ihre eigenen Grenzen abzuschätzen für das, was sie vor haben.
Egal ob mit „einen an der Waffel“ oder ohne – wer sich durch ein Abitur, durch ein Studium gearbeitet hat, hat viel Literatur studieren müssen, verstehen müssen, hat viel rätseln müssen, und vielleicht auch mal geflucht, geheult.
Barrieren habe ich immer beim Lernen am heftigsten gespürt, denn ich wollte drüber über die Lernbarriere.
Wenn jemand nicht studieren kann, weil der Zugang zur Uni blockiert ist, einfach nur, weil der Mensch mit einer Behinderung lebt, dann ist das falsch und muss geändert werden.
Es kann aber dem Menschen mit Behinderung wie dem Menschen ohne Behinderung gleichermaßen passieren, durch zu fallen oder „nur“ eine „3“ zu haben im Abschluss.
Es ist sehr bequem, hinter anderer Leute Lebensleistungen immer nur Schummelei und Verschwörung zu sehen – da kommt man dem Ziel der Inklusion nicht näher, im Gegenteil und deshalb werden die Exkludierer ja auch nicht müde, immer nur auf Verschwörung zu setzen.
Ich habe meine Abschlüsse genauso erarbeitet wie jeder andere auch und die sind genauso viel wert wie die Abschlüsse jedes anderen auch.
Und das ist eben auch die Strategie der Antisemiten: Erst wollen sie verhindern, dass man die Abschlüsse macht, hat man sie aber, sind sie nicht „richtig“ – und so geht das immer weiter.
Das muss aufhören, das muss doch das Ziel sein.
Guten Morgen Raul Krauthausen,
die Zahl der Coronainfizierten steigt wieder deutlich an, wieder, wie im letzten Jahr, fast 50 % geimpft in diesem Jahr, auf den anderen 50 % lastet die latente Kritik, es nicht richtig anzugehen mit dem Impfen – Schuldgefühle bei denen, die noch nicht geimpft sind. Kein Grund für Schuldgefühle, es gibt keine Impfpflicht – warum nicht? Warum Druck ohne Durchsetzungskraft? – Überzeugen möchte man, appellieren, ohne Zwang an die Bürger/Bürgerinnen heran – es ist auch Wahlkampf. Ich finde die Form des Druckmachens unfair, ich möchte klare Regeln, für die sich auch die Regierenden verantworten, ich will es nicht immer alleine alles gewesen sein. Ich bin 55, mein zweiter Impftermin ist am 3.8., stoisch halte ich daran fest, er ist für mich eingeplant, es wird Biontech Pfizer geben, davon gehe ich aus. Klar, hätte ich rasch absagen können, und, vielleicht letzte Woche zur Spontanimpfung gehen können, was aber die Planungen und Bereithaltung meines Impfstoffes nicht leichter gemacht hätte. Also arbeite ich den Plan ab und komme mir trotzdem schon wieder etwas verkehrt vor: Hätte ich nicht schon längst geimpft sein können? Das ist so das Grundgefühl – immer verkehrt für die Politik. Armin Laschet kommt aus der Entschuldigerei nicht heraus, Annalena Baerbock auch nicht, ich entschuldigte mich gestern fürs möglicherweise zu direkte „Überm Zaun gucken“, welches sich später in Worte kleidet – und da sind wir beim bürgerlichen Schuldprojekt: Die Sprache. Das Wort „Neger“ darf nirgends mehr vorkommen, heißt, ich kann auch Alfred Polgars „Der Ringer“, Kein und Aber Verlag, nicht mehr vorlegen – legte ich früher vor, fand ich super fürs Lernbuffet – Polgar hielt den sensationslustigen Mitmenschen einen Sprachspiegel vor, er malte ihnen ein Bild ihrer Leidenschaften, und die Leidenschaft für leicht gebräunte, schwitzende Haut dunkelhäutiger Menschen hielt er und hält er uns plakativ entgegen: Zitat, S. 100 „Der diesjährige Nigger-Champion heißt Zipps. Er erfreut sich – ich entsinne mich – einer wunderschönen Farbe. Nigger haben ja überhaupt eine schönere, natürlichere Farbe als die Weißen. Weiß ist degeneriert, künstlich, Tenor. Negercouleur ist männlich, Bariton“. Das Ziel Polgars war nicht, Menschen dunkler Hautfarbe zu beleidigen, zu diskriminieren, sondern den „Menschenzoobesuchern“ eine Anregung zu geben, wie sie über ihre eigene Sichtweise auf „Liliputaner“ „Nigger“ mal nachdenken könnten. Das Gemälde soll die Perspektive des „Zoobesuchers“ zur Änderung ermuntern, sich selbst mal ein neues Bild zu malen. Darum ging es Alfred Polgar, den ich sehr schätze und nicht im „Giftschrank“ versteckt haben will. „Konkret und unprätentios“ habe er gearbeitet, berichtete Eberhard Falcke im Deutschlandfunk. „Mein Gott, Sie leben noch?“ sei Polgar nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil mitunter gefragt worden.
Alfred Polgar lebt noch, weil seine (SEINE!) Texte noch leben, so wie der „Holzmichel“ noch lebt – heuer aber kommt das Jodeln weltweit in Mode, was nichts Schlechtes ist, wiewohl die Vermarktung gerne mit dem Hinweis – es wäre kein Gesang, also kein Text dabei – betrieben wird, und dies von Japan über Garmisch und Berlin bis in die Baumberge.
Es sei wie Yoga, in einem WDR-Beitrag aus dem Jahr 2020 wird an Franzl Lang erinnert.
Ach ja, und wenn ich nicht immer nur Berliner Quellen in mein Buffet nehme, wird der Berliner sauer – das ist das, was ich generell nicht mag, dieses Schubladendenken, als ob man nicht überall etwas über Berlin oder Lichterfelde lernen könnte. Schrecklich, dieser Provinzialismus in meiner Hauptstadt. Da bin ich gegen!
Fredl Fesl hat auf den Punkt gebracht, wo das Problem im Text zu finden ist, wenn er dem König nicht gefällt, wird es nichts, der Königsjodler hat die deutlich besseren Karten, das Herz zu erfreuen.
Als ich mit meinem guten Freund, einem jüdischen Amerikaner, mal einen heftigen Streit hatte, schrieb ich ihm, wie ich das so mache im Leben, einen langen Brief und schob ihn unter seine Tür durch.
Empört kam er ein paar Tage später an meine Tür: „Du, das finde ich jetzt nicht gut!“
„Zum Gutfinden habe ich ihn nicht geschrieben“, antwortete ich. Er lachte über die Antwort und ich auch – wir sind eben gute Freunde.
Auch wenn man nicht „guter Freund“ ist, müssen trotzdem Texte leben dürfen, die nicht „gut“ gefunden werden – denn das ist nicht das Ziel alleine von Texten, „gut“ gefunden zu werden, das Ziel von Texten ist jedes Ziel, er kann der Unterhaltung dienen, der Information, der Provokation, der Töne, der Farben, alles.
Aber er muss nicht vom „König“ gut gefunden werden. Es ist nicht einfach, sich nicht voreilig mit Schuldgefühlen zu bekleckern in diesen Zeiten, sich nicht dauernd zu entschuldigen für irgendeinen Fliegenschiss.
Das Ziel muss aber doch letztlich sein, dass möglichst viele Menschen gesund und glücklich an dem Bild mitmalen, mitjodeln, mittexten, mithämmern können, welches Leben heißt.
Und da bin ich schon erschüttert, wenn ich feststelle, dass es wieder nichts wird mit der „Herdenimmunität“ und ich denke: Hätte ich doch den Termin sausen lassen sollen am 3.8., nicht extra die Fahrt nach NRW umbuchen, nur um den Termin einhalten zu können – wäre ich richtiger, wenn ich spontan los gerannt wäre und heute längst geimpft?
Es ist schwierig, sich gegen das Gefühl, immer eine verkehrte Bürgerin zu sein, zu wehren – ich lebe, weil ich texte.
Das Ziel heißt Leben – für jeden, für alle.
Besten Dank Raul Krauthausen.
Ich bin es noch einmal. Ich fiel heute über eine Barriere und jetzt ist mir etwas wacklig vor lauter Schreck, außer einer Schramme am Bein ist nichts passiert.
Ich war auf meinem üblichen Spaziergang am Montag über den Parkfriedhof Lichterfelde, dieses Mal weckte ein relativ stark zugewachsenes Grab in einem kleinen Seitenweg meine Aufmerksamkeit, ich konnte ein höheres Grabmal erkennen, eine Bronzetafel mit einem Portrait ahnen, sonst aber nichts, ich war sichtbehindert. Nun wollte ich zum Stein hin, sah noch die kürzer geschnittenen Holzäste unten, stieg mit dem rechten Fuß sorgfältig darüber hinweg, der linke Fuß aber verhakte sich im Geäst, ich fiel der länge nach auf das Grab, mir entfuhr ein „Scheiße“. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, mein Herz schlug bis an den Hals, stellte ich aber fest, dass physisch nicht viel passiert sein konnte, ein Kratzer, mehr nicht.
Um zu lesen, wer überhaupt auf dem Stein geschrieben steht, musste ich das Grün davor zur Seite schieben, es roch gut, nach Kräutern, in denen stand ich ja auch.
Dann las ich „Non omnias moriar“ – musste ich nachgucken, kann kein Latein: „Nicht alles stirbt“ heiße es. Das ist beruhigend.
Jetzt ist das so, dass öfter mal dasteht, die Grabbesucher müssten sich selbst kümmern, wenn was wackelt und so weiter.
Dann denke ich immer: Könnte ich gar nicht, wenn so ein Stein wackelt, muss einer kommen, ihn festmachen. Auch so störrisches Astzeug kriegte ich nicht raus.
Wer sind die Menschen, die auf dem Stein stehen? Ich finde nichts.
Beim Geburtsdatum des Studiendirektors sehe ich ein vierblättriges Kleeblatt.
Das Ziel ist Inklusion, auch für den Tod, nicht nur für das Leben.
Das wollte ich noch gerne dazu schreiben, während der Schreck langsam nachlässt, mir läuft so etwas nach, das dauert, bis die Knie nicht mehr zittern.
Einen schönen Montag. Besten Dank Raul Krauthausen
Guten Morgen Raul Krauthausen,
der Monat neigt sich dem Ende entgegen, auf dem Konto ist es knirsch und ich bräuchte so viele Bücher, um mich zu bilden, zielgerichtet, wohlgemerkt, denn ich möchte ja im Ergebnis die Spinnstofffabrik Zehlendorf Aktiengesellschaft verstehen. Da bräuchte ich, die Commerzbank wies mich freundlicherweise darauf hin, ein mehrbändiges Konvolut aus dem Jahr 2006, was ich auch wirklich gerne persönlich Zuhause hätte, noch lieber digital, denn da kann ich besser lesen, als in einer Bibliothek, in einem Archiv, wo ich nur Hunger kriege und mich alles ablenkt. (Das ist mein Problem, klar – ist trotzdem so). Dann bräuchte ich die Tagesspiegel-Ausgabe vom 23.8.1959, unter 40 Euro nicht zu kriegen, nicht, wenn ich sie selbst haben will. Dann sah ich gestern ein Buch über den Griebnitzsee bei Dussmann, hier ist das Haus Nr. 4 abgebildet, in dem Kurt von Schleicher umgebracht wurde – hätte ich gerne gekauft bei Dussmann, muss ich nächste Woche mal gucken, wenn frisches Geld da ist. Mir fehlt ein Band der Chronik Coesfelds etc. etc. Alles ganz wichtige Literatur zum Lernen, zum Verstehen – dicke B´ücher mitunter, die den Raum zu stellen, der auch nicht von grenzenloser Kapazität ist.
Mehr Digitalisierung und ein faires Preisangebot wären sehr hilfreich für die kulturelle Bildung, zu der auch die Schulbildung zählt.
Kürzlich schrieb der Tagesspiegel über einen Schauspielstudierenden, der sich mit einem Lieferservice stritt, weil er Teile seines Mindestlohnes wieder gestrichen bekam.
Wenn ich an meine Berufsphase denke: Ich habe oft darauf verzichtet, auszurechnen, was noch übrig blieb von der Besoldung, wenn ich alle Materialien, die ich selbst kaufte, in Rechnung gestellt hätte – nicht mehr viel. Und so ist es auch im Ruhestand – Bildung ist immer noch zu teuer für mich, auch als Schülerin, die ich ja jetzt wieder bin.
Die Rückkehr zum fest geschriebenen Schulbuch kann es aber meines Erachtens auch nicht sein, das denke ich, wenn ich auf meine alten Geschichtsbücher 1978 gucke, dann müssen Lehrkräfte das nehmen und stehen davor, und haben vielleicht ein Gewissensproblem, so war das auch manchmal, das zeige ich gerne an einem Zitat, „Spiegel der Zeiten, Moritz Diesterweg, Band 4, S. 210
„Die Lage Israels. In den Kämpfen vom 1948/49 hatten über 800.000 Palästina Araber nahezu 70 v. H. der alteingesessenen Bevölkerung, ihre Heimat in einer Massenflucht verlassen. Sie lebten nunmehr in Flüchtlingslagern in den umliegenden arabischen Ländern, von UN-Organisationen betreut, aber kaum in die Aufnahmeländer integriert. Denn einerseits sollte ihr Flüchtlingsstatus erhalten bleiben, um den Anspruch auf Rückkehr in die Heimat zu sichern, andererseits waren die armen, selbst unter Bevölkerungsdruck stehenden Aufnahmeländer zu einer echten Eingliederung der Flüchtlinge auch wirtschaftlich nicht in der Lage. Israel fand sich nun mit einer 1.200 km langen Grenze und einem sehr verwundbaren Staatsgebiet einem dauernden Belagerungszustand der arabischen Welt ausgesetzt. Durch Einwanderungen erhöhte sich seine Bevölkerungszahl schnell. Von 1948 bis 1951 stieg die Zahl der jüdischen Bewohner Israels von 650.000 auf über 1,3 Mio., 1971 auf 3 Mio. Damit ergaben sich für das Land neue Probleme: Juden aus den arabischen Ländern wanderten ein, an vorindustrielle Verhältnisse gewohnt: Es bedurfte großer Anstrengungen im Erziehungs- und Bildungssystem, um das Entstehen einer einheitlichen Nation zu sichern.“
So wie ich die Textpassage hier einsetze, könnte ich sie überall einsetzen, auch im System Schule, wofür sie offiziell vorgesehen war, aber: Ich fühlte mich nicht gut damit, fügte ich nicht noch Materialien, die auch die positiven Beiträge, die Einwanderer ins Land bringen, hinzu. Ich sähe mich in der Pflicht, dem Eindruck, dass jüdische Einwanderer nach Israel das Problem Israels wären, dass also die jüdischen Flüchtlinge selbst die Probleme des Landes Israels darstellten, etwas hinzu zu geben. So lese ich die zitierte Passage, denn sie wird nicht wirklich relativiert oder ergänzt durch Spiegelungen der eigenen Landesgeschichte, des eigenen Umganges mit Juden, nicht in diesem Zusammenhang.
Auf diesem Weg gerät Inklusion in den Ausverkauf, und der ist in vollem Gang, nicht nur in der Hauptstadt, aber hier sehe ich ihn vielleicht besser, weil er mir näher ist.
Bildung muss wieder aus dem Kaufwettbewerb heraus, wieder als öffentliches Gut gewürdigt und finanziert werden, und dies pluralistisch, nicht anhand des einen Geschichtsbuches, welches antisemitische Ressentiments in sich birgt.
Besten Dank Raul Krauthausen für den Beitrag wie den frühen Forenplatz. Einen schönen Mittwoch.
Nicht jeder kann sich identifizieren mit dem, was in einem einzigen Buch steht.