Im Englischen gibt es „Special Education“, im Deutschen die „Sonderpädogogik“. Beides ist tragisch.
Zucker schadet. Diese Erkenntnis greift immer mehr Raum, und das nicht nur bei reichen Hipstern, die nicht wissen, wie sie die Zeit rumkriegen sollen. Zucker macht krank und abhängig. Er wirkt auf das Belohnungssystem unseres Gehirns wie Heroin.
Nein, dies ist kein Beitrag über Ernährung. Aber wir alle kennen die Verlockungen von Zucker, und er hat sich breit gemacht in den Nahrungsketten. Es gibt übrigens auch Zucker, der sich auf Worte legt. Dann klingen sie süßer. Im Englischen gibt es dann die Kinder mit „special needs“, welche eine „special education“ nach sich ziehen. Im Deutschen sind es dann die Kinder mit „besonderen Bedürfnissen“, die angeblich eine besondere Pädagogik erfordern. Diese Verpackung mag toll klingen. Ihr Inhalt aber schädigt, wie Zucker es eben tut.
Ich bin auf einen Beitrag der Bloggerin Catia Malaquias gestoßen, welche die Plattform „Starting with Julius“ ins Leben gerufen hat. In diesem Text, der drei Beiträge in sich vereint, räumt sie mit drei Mythen rund um „Special Education“ auf, den ich nicht vorenthalten will.
Mythos Nr. 1:
Das Ding mit den „besonderen Bedürfnissen“
Denn „speziell“ oder „besonders“, das klingt süß. Nicht so direkt wie „behindert“, auch längst nicht negativ. Zumindest soll es das angeblich. Es ist eine klassische Verschönerung, ein Euphemismus. Dabei wird etwas nur schöngeredet, nicht schöner gemacht; im Ergebnis wird es ungenießbar.
Menschen mit Behinderung haben keine besonderen Bedürfnisse, denn Bedürfnisse haben wir alle. Was macht ein Bedürfnis „besonders“? Wenn es von einer Gruppe geteilt wird, die klein genug ist, um keinen Mainstream zu bilden? Ich kenne keinen Menschen mit Behinderung, der sich mit „besonderen Bedürfnissen“ beschrieben hören will. Zum einen stimmt es nicht. Und zum anderen wirkt es bevormundend und von oben herab, die Süße ist nur vermeintlich; eine Studie, über die ich bereits schrieb, fand heraus: Menschen jeden Alters werden allgemein als negativer empfunden, wenn man sie mit „besondere Bedürfnisse“ statt mit „behindert“ beschreibt.
Dennoch gibt es noch einen Wildwuchs an Websites und Büchern über „Special Needs“, es gibt eine Industrie. Malaquias gibt für den Irrsinn ein Beispiel: „Ein Kind mit ‚besonderen Bedürfnissen‘ nimmt den ‚besonderen Bus‘, um ‚besondere Hilfe‘ zu kriegen, in einer ‚besonderen Schule‘, durch ‚Lehrer für besondere Erziehung‘, um es auf ein ‚besonderes Leben‘ in einem ‚besonderen Haus‘ vorzubereiten und um in einem ‚besonderen Workshop‘ zu arbeiten. Klingt das etwa ‚besonders‘?“
Nein, es ist dann der gleiche Kram, von der Wiege bis zur Bahre. Die deutsche Sprache ist übrigens weniger charmant, sie streut eine Prise Salz in den Zucker: Die Schulen für „Special Education“ nannte man bis vor kurzem „Sonderschulen“, aus dem Besonderen wurde also ein ehrliches Aussondern – und genau darum geht es. Das ändert auch die aktuelle Umbenennung in Förderschule nicht, denn gut gefördert wird man, das beschreibt Malaquias in ihrem zweiten Mythos, dort nicht.
Wenn etwas „speziell“ ist, ruft man nach dem Spezialisten. Und er schaltet und waltet an einem „speziellen“ Ort. Der kümmert sich dann, als handele es sich um einen Defekt, der behoben werden soll – genau dies zimmert das medizinische Modell von Behinderung. Dem gegenüber steht das soziale Modell von Behinderung, welches nach den Behinderungen für den Menschen mit Behinderung fragt, und zwar in seinem Umfeld. Das soziale Modell ist Grundlage für die UN-Behindertenrechtskonvention, die Behinderung als einen Teil menschlicher Diversität anerkennt. Nebenbei erbaut eine „Special Education“ eine Barriere zu Allgemeinschulen, wohin die Kinder ohne Behinderung gehen. Plötzlich geht dann etwas nicht. Die Auswirkungen sind schlecht.
Mythos Nr. 2:
Das Ding mit behinderten Kindern in einem „besonderen Setting“
Okay, Inklusion hat keine alte Tradition, aber die Forschungsergebnisse erstrecken sich auf 40 Jahre, und sie sind einhellig und interkontinental: Kinder mit Behinderung lernen auf allgemeinen Schulen besser und mehr als in Förderschulen. Denn das Aussondern wirkt sich negativ aus, senkt die Maßstäbe und Erwartungen, während es den Eindruck der Isolierung und damit Frust verstärkt. In den Leistungsvergleichen schneiden die Kinder mit Behinderung an Allgemeinschulen besser ab als ihre Altersgenossen in den Förderschulen. Punkt. Und auch die Schüler ohne Behinderung profitieren von Inklusion, da sie ihre Sozialkompetenzen ebenso verbessern wie das Memorieren von Lernstoff, wenn sie ihn zum Beispiel erklären.
Mythos Nr. 3:
Das Ding mit dem angeblichen Bedarf nach besonderen Schulen, damit Eltern wählen können
Gern wird von den Vertretern der Förderschulen der Elternwille als Argument vorgebracht, jüngst zum Beispiel in Berlin, wo der Senat in Förderschulen investiert – angeblich, um dem Elternwillen nachzukommen. Das Motto heißt dann: „One size does not fit all.“ Was aber, wenn der Besuch einer Allgemeinen Schule, wo es erwiesenermaßen am besten für ein Kind ist, als das anerkannt wird, was er ist, nämlich ein Menschenrecht? Haben Eltern das Recht, solch ein Menschenrecht ihren Kindern vorzuenthalten? Eines, das langfristig einen grundlegenden Beitrag legt für ein eigenes und unabhängiges Leben, eben einen Weg zum Glück? Es geht halt nicht um eine Wahl zwischen gleich guten Optionen.
Natürlich wollen Eltern für ihre Kinder das Beste. Und dann haben wir mit Allgemeinschulen zu tun, die sich gegen Inklusion versperren. Die Barrierefreiheit scheuen oder Inklusion als eine Maßnahme ansehen, die mit der linken Pobacke abgesessen wird – ohne differenzierten Unterricht, ohne Förderung und Abstimmung und vielleicht sogar mit einer Kultur, in der Kinder mit Behinderung sich fürs Gemobbtwerden qualifizieren; in diesem Zusammenhang erscheint es dann weniger überraschend, wenn sich Eltern für Förderschulen erwärmen, auch wenn sie mit dieser Entscheidung quasi buchen, dass ihre Kinder niemals einen Schulabschluss erwerben und den „besonderen“ Weg weiterschreiten, hinein in die Sonderwelten von Werkstatt und Wohnheim. Tatsächlich passt nicht eine Schuhgröße für Alle – aber genau darauf muss inklusive Schule aufbauen.
Die gleich guten Optionen gibt es also in Deutschland nicht oft. Es ist eine vorgegaukelte Wahl. Schieben wir den „Elternwillen“ beiseite, der eh nur vorgeschoben ist. Wenn funktionierende inklusive Schulen zur Verfügung stehen, und das sollte ja all unser Bestreben sein, wird der Elternwillen zu IHREM Besuch eindeutig sein.
8 Antworten zu “Warum ich das Wort „besonders“ nicht mehr hören kann”
Lieber Raul,
so ist das, seit Jahren vertrete ich diesen Inklusionsansatz, der überall in der Gesellschaft gelebt werden sollte, aber mir scheint, gegenwärtig gibt es insgesamt eher eine Renaissance der Schubladen, die dann auch noch den Rechtsextremen behilflich sind, im gesamten Bildungs- und Kulturalltag. Ich habe mich immer angelegt, werde mich immer anlegen, wenn es darum geht, Inklusion zu verteidigen, was immer auch heißt, dass ich mich selbst verteidige, denn mein Leben ist inklusiv richtig und sonst nicht richtig. Aber was heißt es? Letztlich braucht ganz einfach jeder Mensch die soziale Sicherheit, die ihn unabhängig macht von jedem anderen, und ich sehe da ganz einfach keine andere Lösung als ein bedingungsloses Grundeinkommen,
denn die Inklusion muss von den Menschen aus gemacht werden, jeder muss mitmachen können, ohne dass ein anderer sagen kann: „Wenn Du für den stimmst, kannst Du sehen, wo Du Dein Geld her bekommst“ Das ist die Unfreiheit, die nicht sein dürfte, die aber ist.
Kulturbildner, die Inklusion lehren und lernen, brauchen eine vollständige Ausbildung und den Beamtenstatus, Inklusion und Wettbewerb passen nicht zusammen.
Wenn die beiden Voraussetzungen fehlen, entsteht keine inklusive Gesellschaft.
Guten Morgen, Raul Krauthausen, zum Thema Inklusion möchte ich gerne auf die Frage antworten, ob ich meine Behinderung gerne „wegzauberte“.
Ich müsste einen Grund haben, sie „weg zu zaubern“, der Grund könnte sein, wenn sie weg wäre, wäre ich vielleicht genauso „interessant“ wie Menschen, die sie nicht haben. Das heißt, ich müsste ein Mensch sein wollen, der ich nicht bin. Ich möchte aber kein Mensch sein, der ich nicht bin, deswegen fällt der Grund schon einmal aus. Ein anderer Grund könnte sein, dass ich dann Gefahren oder auch Chancen im sozialen Leben leichter einschätzen könnte – das wäre so auf Anhieb schon reizvoll, aber jedem Zauber liegt ein Abschied inne – zauberte ich meine soziale „Kurzsichtigkeit“ weg, verlöre ich bestimmt auch den Handwerkskoffer der Kompensationen, den habe ich aber sehr gerne, ich habe ihn mir mein Leben lang zusammengestellt. Er lebt vom geschriebenen und geteilten Wort, mit allen kann ich nicht teilen, weil nicht alle Sprachen bedient werden in einer exkludierenden Welt, mit blinden Menschen kann ich oftmals meine Schriftsprache nicht teilen, mit gehörlosen Menschen keine Tonsprache Dritter. Stehe ich draußen im Coronaland, kann ich Keinem, der meine Sprache nicht kennt, vermitteln: „Halten Sie bitte 2 Meter Abstand. Es geht um Leben und Tod“.
Wenn ich meine Behinderung weg zauberte, stände dies Problem unvermindert in der exklusiv sprechenden Welt. Deshalb fordere ich inklusive Sprache, damit jeder die Chance hat, den Virus auf Abstand zu halten, um zu leben..
Abschließend dazu. Ich glaube, die größte Behinderung in meinem Leben heißt „Rechtsextremismus“, denn meine eigene Behinderung erscheint größer, indem der Rechtsextremismus wächst und würde, denke ich kleiner, wenn der Rechtsextremismus wieder kleiner wird.
Rechtsextremismus würde ich wegzaubern wollen, aber ich werde wohl gegen ihn an schreiben müssen, jeden Tag. Ich schrieb schon mal, ihm müsse das Geld entzogen werden, ich glaube dass die Einladung zur Verschuldung für machen Menschen die Falle sind, durch die sie dann in Abhängigkeiten von den falschen Typen, im Extremfall Rechtsextremen, geraten. Darüber würde ich gerne weiter diskutieren, mehr drüber wissen.
Besten Dank Raul Krauthausen, auch für den Hinweis auf das anregende Video zu der Frage: Würdest Du Deine Behinderung wegzaubern?
Einen schönen Abend, ich freue mich über weitere Tipps, Links und Beiträge.
Hallo Raul. Ein sehr schöner Beitrag, der zum Nachdenken anregt. Darüber hinaus sehe ich dank deines Artikels nun von einem anderen Blickwinkel heraus. Vielen Dank für die Horizonterweiterung. ??
Lieber Raul,
danke für den interessanten Beitrag. Gibt es ein Beispiel für eine gute Formulierung, die man verwenden könnte. Ich arbeite im Kulturbereich und finde es gut, wenn Veranstalter in ihrem Programm Hinweise einbauen, dass z. B. Personen mit … Bedürfnissen sich gerne an XY wenden können, um nähere Informationen zu erhalten.
Schreibt man dann am besten: „Informationen zur Barrierenfreiheit“ und lässt das Wort „Bedürfnisse“ einfach komplett weg?
Danke und viele Grüße
Franziska
Liebe Franziska,
schulen Sie einfach alle Ihre Mitarbeieter, damit die Ihren Kulturbetrieb alle gleich gut kennen – dann können Sie den ganzen Satz „Personen mit…Bedürfnissen wenden sich gerne an XY weglassen“ – Falls Sie grundsätzlich ein Beschwerdemanagement für alle installiert haben, werden Sie bestimmt ein Feedback von allen Menschen bekommen, was diese gut oder nicht so gut fanden, welche Barrieren diesen begegnet sind.
Der in Berlin behauptete Eltern Welle hängt ja auch nur damit zusammen, dass der Senat seit Jahren und Jahrzehnten an der Inklusion erspart und es nach wie vor nicht schafft, die Schulen personell und sachlich entsprechend auszustatten. In zu großen Klassen mit nur einer Lehrkraft ist nicht nur inklusiver Unterricht schwer möglich, sondern auch der leider vorherrschende nicht inklusive Unterricht ebenso. Wir Lehrkräfte sollen immer fördern und differenzieren, dafür braucht man aber zusätzliche Räume und manchmal auch zusätzliches Personal, etwa um Gruppen zu teilen. Beides haben wir aber nicht. Und auch was die bauliche anstatt Ausstattung von Schulen angeht, gibt es noch lange kein Wahlrecht behinderter Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern, weil einfach wenig Schulen zur Verfügung stehen, die stufenlos zugänglich und nutzbar sind, weil Schulen bei der Information den Eltern gegenüber massiver Vorbehalte äußern, ob sie in der Lage sind ein gehörloses, blindes oder geistig behindertes Kind zu unterrichten. Da wird dann schnell behauptet, man sei damit überfordert, man sei dafür nicht ausgebildet etc.
Das ist so, wie auch sonst im Alltag: Je mehr Barrieren aufgebaut werden, umso weniger können behinderte Menschen teilhaben und am Ende wird behauptet, wir hätten kein Interesse.
Ich bin seit Jahren im Bereich der nichtaussondernden Beschulung engagiert und selber auch an einer Schule tätig. Ich kenne wenig Eltern, die nicht viele Kämpfe ausfechten mussten, damit ihre Kinder nichtaussondernd beschult werden und adäquate Bedingungen bekommen.
Und natürlich überlegen sich Eltern in diesem Kontext, ob sie diesen Kampf führen können und wollen oder ob sie nicht gleich nachgeben und ihr Kind auf eine Sonderschule geben…
Hallo, Barrieren fangen in den Köpfen an, wie Rsul einmal treffend sagte und solange diese nicht weg sind, wird ein normales Leben nicht möglich sein! Den anderen nehmen so wie er ist, als Mensch, dann würden wir inklusive Leben, bräuchten aber keine Inklusion mehr!
Ich versuche dies tagtäglich, leider ist es oft nicht einfach, weil in unserer Gesellschaft sich eine Bevormundung breit gemacht hat, die oft den anderen , gegenüber der nicht so ist wie ich , wie ein kleines Kind zu behandeln, als mit Respekt! Und ihn dort abholen wo er steht und dann das beste raus zu holen, in einem Leben , auf einen Planeten! Auch hier denken viele nicht daran das es nur den einen gibt!