Inklusive Hochschule? – Wie der Bildungssektor Menschen mit Behinderung ausklammert

Preisträger Raul Krauthausen zusammen mit den Laudatorinnen Kristina Vogel (l.) und Adina Herrmann.

Kürzlich wurde ich in der Hochschule Ansbach mit dem Bildungspreis Ansbach geehrt. Es war eine Feier, die sehr mühe- und liebevoll von den Studierenden gestaltet war und auf die ich gerne zurückblicke. In diesem Rahmen bin ich für ein Jahr zum Namensgeber eines Hörsaals ernannt worden, der allerdings (noch) nicht barrierefrei ist. Das verleitet mich nun ein paar Gedankenanstöße über Inklusion im Bildungs- und Wissenschaftsbereich zu teilen. Es folgen u. a. Ausschnitte meiner Rede in Ansbach. 

Inklusion und Barrierefreiheit an Hochschulen ist ein Thema, mit dem ich mich aus vielerlei Gründen regelmäßig beschäftigen muss. Einige davon wurden auch bei meinem Besuch der Hochschule Ansbach evident und verdienen eine nähere Betrachtung. Wichtige Punkte in dem Bereich sind u.a. folgende: 

  • Barrierefreiheit der Gebäude und Säle 
  • Barrierefreiheit der Lehrinhalte 
  • Teilhabe als Studierende / Teilgabe als Lehrende
  • Zugang zu Bildung für Schüler*innen mit Behinderung 
  • Forschung an Hochschulen und die Perspektive behinderter Menschen 
  • Der Mehrwert von Behinderung: Resilienz und Erfindungsreichtum 
  • Intersektionalität: Rassismus im Bildungssystem

Jeder dieser Punkte trägt individuell und in Summe dazu bei, dass Bildungseinrichtungen, insbesondere Hochschulen, noch immer Orte der Exklusion sind. 

Barrierefreiheit in Hörsälen und Bildungsgebäuden

Die Zugänglichkeit zu Hörsälen und ihre Barrierefreiheit ist oft ein Problem in Bildungseinrichtungen. Aufgrund der festen und teils stufenweisen Anordnung der Sitzreihen können Menschen im Rollstuhl sich innerhalb des Saales nicht frei bewegen und müssen entweder ganz vorn oder ganz hinten im Saal stehen. Also weit entfernt oder direkt vor Dozierenden und nicht in ein Miteinander unter Kommiliton*innen eingebunden. Wie Rollstuhlplätze ausgestattet sind, beinhaltet darüber hinaus eine ableistische Annahme über die Teilnahme behinderter Studierender am Lernprozess: In der Regel sind diese Plätze nicht, wie alle anderen, mit einem Tisch ausgestattet und bieten dementsprechend keine Ablagemöglichkeit für Laptops oder Schreibutensilien. Als müssten Studierende mit Behinderung Inhalte nicht auf dieselbe Art mit verfolgen und notieren können.

Die Digitalisierung kann sicherlich einiges erleichtern, aber das ersetzt nicht, Behinderung im Vorfeld mitzudenken und mitzuplanen. Meist sind wir nur ein After-Thought, ein nachträglicher Gedanke, der in ein Gebäude voller Barrieren integriert werden muss. Ein idealer Hörsaal würde mir als Rollstuhlfahrer freie Platzwahl ermöglichen, auch mitten im Raum unter meinen Freund*innen und natürlich mit Tisch oder Ablagemöglichkeit für meine Notizen. 

Allgemein sind Bildungsgebäude oft nicht barrierefrei. Behinderte Menschen müssen weite Wege zurücklegen, um zu barrierefreien Eingängen zu gelangen, oder um Umwege zu navigieren, wenn der Aufzug kaputt ist, oder um zur einzigen barrierefreien Toilette zu gelangen. Diese Lebenszeit, die wir auf Umwegen zu unseren Zielen verbringen, geht uns verloren. Der Fachbegriff dafür heißt “Crip-Time”. Er wurde von Alison Kafer geprägt und beschreibt u. a.  die Zeit, die nur behinderte Menschen aufgrund von Barrieren aufbringen müssen. Und auf Campussen und in Bildungsgebäuden sind die Barrieren oft vielfältig und zeitraubend.

Ein zugrundeliegender Missstand ist folgender: Behinderte und geflüchtete Menschen sind die einzigen Menschengruppen in Deutschland, deren Menschenrechte mit Kosten wegargumentiert werden. Folgendes Gedankenexperiment hilft, dies zu veranschaulichen: Es wird ein nagelneues Gebäude gebaut und der Architekt sagt: “Toiletten zum Sitzen brauchen mehr Platz als Pissoirs, deswegen bauen wir die Sitztoiletten nur in Erdgeschossen.” Der Aufschrei wäre laut. Wahrscheinlich würde es am Ende natürlich genauso viele Sitz- wie Stehtoiletten geben und der Architekt bekäme eine Abmahnung. Beim Thema barrierearme Toiletten scheint es jedoch völlig o. k., wenn nach einer solchen Logik verfahren wird und damit Kosten gespart würden. Doch hier mal ein revolutionärer Gedanke: Warum ist eigentlich nicht jede Toilette barrierefrei?

Barrierefreiheit für Lehrinhalte 

Barrierefreiheit bedeutet nicht nur rollstuhlgerecht. Sondern Barrierefreiheit schließt auch andere Behinderungsformen mit ein. Eine Übersetzung von Laut- in Gebärdensprache, wie sie bei der Preisverleihung in Ansbach stattgefunden hat, gehört nicht nur auf Veranstaltungen, wo ein Mensch mit Behinderung spricht. Sondern Barrierefreiheit gehört immer überallhin, auch da, wo Behinderung nicht hauptsächlich Thema ist. Das bedeutet nicht nur Dolmetschung für deutsche Laut- und Gebärdensprache, sondern auch Übersetzung in Schrift. Also Inhalte, die gelehrt werden, müssen vor Ort gedolmetscht werden, und auch digital für blinde und sehbehinderte Menschen – und ihre Screenreader – zur Verfügung stehen. Das schließt auch barrierefreies Webdesign mit ein. Es geht darum, Behinderung nicht immer nur mitzudenken, wenn Behinderung anwesend ist, sondern Behinderung permanent mitzudenken, sodass behinderte Menschen zur Teilhabe befähigt sind. Das ist eine der größten Aufgaben, insbesondere im Bildungsbereich, die wir angehen müssen. 

Teilhabe / Teilgabe 

Inklusion bedeutet nicht nur, dass Menschen mit Behinderung im Hörsaal sitzen und passiv konsumierend zuhören – das nennt man Teilhabe. Inklusion bedeutet auch, dass Menschen mit Behinderung in den Hörsälen lehren oder als Redner*innen auftreten und einen gesellschaftlichen Mehrwert bieten. Das heißt dann Teilgabe. Doch die Anzahl teilgebender Menschen mit Behinderung ist noch verschwindend gering an den Universitäten und Bildungseinrichtungen. Wenn 10 % unserer Gesellschaft eine Behinderung hat, müssten auch 10 % der Lehrenden und Dozierenden behindert sein. Warum ist das so gut wie nirgendwo der Fall? Wir müssen beides gleichzeitig mitdenken, Teilhabe und Teilgabe. Behinderte Menschen haben ein Recht darauf, teilzunehmen und uns müssen auch Wege offenstehen, unseren Teil beizutragen.

Zugang zu Bildung 

Vielen Menschen mit Behinderung wird der Zugang zu Bildung systematisch und schon früh im Leben verwehrt. Ich kenne viele Schüler*innen mit Behinderung, die theoretisch in der Lage wären, Abitur zu machen, aber die Gymnasien in der Nähe sind nicht barrierefrei oder weigern sich aus anderen Gründen, sie aufzunehmen. Stattdessen werden behinderte Schüler*innen auf andere Schulformen ausgelagert, z. B. auf Förderschulen. Das heißt, wir werden gebremst, bevor wir durchstarten. Und das trägt so tragische Blüten, dass mir eine 16-jährige junge Frau an einer vermeintlich inklusiven Schule erzählt hat, dass sie Dressurreiterin werden möchte, wenn sie mit der Schule fertig ist. Und fügte direkt hinzu: “Aber das geht ja nicht wegen meines Rückens. Das sagen die Ärzte, die Lehrer und meine Eltern.” Das gesamte System redet ihr im Teenageralter bereits ein, dass sie ihre Ziele nicht erreichen kann. Und das, was ich allen Menschen mit Behinderung in dem Moment mitgeben kann, ist: Die einzigen Menschen, die wissen, was sie können und was sie nicht können, seid ihr selbst. Und nicht die Ärzt*innen, nicht die Eltern, nicht die Lehrenden. 

Es geht darum, behinderte Menschen zu befähigen, sich auszuprobieren und Fehler zu machen. Auch wir haben den Wunsch, unseren Zielen so nah wie möglich zu kommen und ggf. Alternativen in unserem Interessenbereich zu suchen. Stattdessen werden unsere Ziele kleingeredet und für absurd erachtet. Uns steht oft nur die Option Werkstatt (WfbM) offen oder bestenfalls der Job der Bürokauffrau / des Bürokaufmanns. 

Außerdem wird uns der zweite Bildungsweg oft verwehrt. Ämter weigern sich, Assistenz für eine zweite Ausbildung zu zahlen. Jede andere Personengruppe hat das Recht, sich so oft auszuprobieren, wie sie möchte. Aber Menschen mit Behinderung wird dieses Recht standardmäßig, permanent verwehrt. Es ist fast ein Akt der Rebellion, sich gegen ein solches System zu wehren und den eigenen Weg zu gehen. Nur wenige behinderte Menschen schaffen das.

Forschung an Hochschulen und die Perspektive behinderter Menschen

Mindestens zweimal die Woche erhalte ich E-Mails von Studierenden, die meine Expertise für ihre Hausarbeit/ Bachelorarbeit/ Masterarbeit/ Doktorarbeit über das Thema Behinderung einholen möchten. Und obwohl dies auf gut gemeinte Ratschläge ihrer Dozierenden zurückgeht, ist der Ansatz fehlgeleitet. Denn sie schieben mir Arbeit zu, die ich kostenlos verrichten soll, anstatt dass die Hochschule behinderte Dozierende anstellt, oder behinderte Studierende sucht. Und wenn jetzt eingewandt wird, dass sich keine behinderten Studierenden immatrikulieren, möchte ich sagen: Wenn Hörsaal und Lehrinhalte nicht barrierefrei sind, kommt auch kein Mensch mit Behinderung und lernt. Das ist ganz normal. 

Es kann aber nicht die Lösung sein, nicht-behinderte Studierende auf behinderte Menschen loszuschicken, die ehrenamtlich ihr Wissen preisgeben und teilweise erniedrigende Fragen über sich ergehen lassen müssen. Fragen, die mit der eigentlichen Forschungsfrage nichts zu tun haben, z. B. „Was ist denn genau Ihre Behinderung?“ „Erzählen Sie doch mal, können Sie auch Sex haben?“ und so weiter. Das sind ableistische Fragen, die nicht-behinderten Menschen in entsprechenden Forschungssettings nicht gestellt werden würden. 

Durch die nicht-behinderte Linse, die über Wissenschaft und Forschung liegt, werden die richtigen Fragen der Inklusion kaum behandelt. Daher ist es essenziell, dass sich die akademische Forschung und Wissenschaft für die Perspektive behinderter Menschen öffnet. Das heißt, dass Wissenschaftler*innen mit Behinderung von Beginn an Teil der Studien sind und an Fragestellung, Datenerhebung und Auswertung beteiligt und für ihre Arbeit bezahlt werden. Wir benötigen andere Fragen, um auch zu neuem Wissen zu gelangen. Denn, was wir ständig vergessen ist, dass behinderte Menschen nicht nur mitmachen wollen, sondern dass behinderte Menschen auch wertvolles Wissen in sich tragen, das alle anderen nicht haben. Und dieses Wissen wird bisher nicht zur Genüge angezapft.

Der Mehrwert von Behinderung: Resilienz und Erfindungsreichtum 

Ein Beispiel für den Mehrwert der behinderten Perspektive ist Erfindungsreichtum: Es gibt keine andere Gruppe von Menschen auf der Welt, die so oft mit Barrieren umgehen muss, wie behinderte Menschen. Dies bildet Resilienzen. Eine Behinderung zu haben bedeutet auch, Stärken zu entwickeln und Alternativmöglichkeiten im Hinterkopf zu haben. “Was mache ich eigentlich, wenn …?” 

Und wenn wir diese Menschen an den Unis haben, in der Lehre oder an Arbeitsplätzen, kann man davon ausgehen, dass diese nicht gleich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sobald ein Problem auftaucht. Denn: that’s our daily business. Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Problemlösefähigkeiten sind wertvolle Ressourcen, die behinderte Menschen mitbringen – und die auch zu großen Erfindungen geführt haben: Die elektrische Zahnbürste im Bad, das E-Book auf dem Nachttisch, der Sprachassistent im Wohnzimmer und auch der E-Scooter sind Erfindungen, deren Technologien ursprünglich für behinderte Menschen entwickelt wurden. Für sie – und vor allem aber mit ihnen. Und jetzt dienen sie der Mehrheitsgesellschaft zur Erleichterung ihres Alltags. 

Eine andere Stärke, die Menschen mit Behinderung in sich tragen, ist die Kraft der Authentizität. Jede*r von uns trägt ein Merkmal in sich, das einem an sich selbst nicht gefällt. Unpünktlichkeit, eine bestimmte Erfahrung aus der Kindheit, oder eine lästige Eigenschaft. Die meisten von uns können das kaschieren. Ich kann meine Behinderung nicht verstecken. Ich könnte mich auf den Kopf stellen, ich bin trotzdem ein auf dem Kopf stehender Rollstuhlfahrer. Das heißt, wir haben zwei Optionen in unserem Leben: Resignieren oder weitermachen. Und wir haben uns für das Weitermachen entschieden. Und diese Stärke ist die, die bewundert wird, die Stärke des Weitermachens. Dazu stehen können, behindert zu sein, sich nicht dafür zu schämen, nicht dankbar zu sein, sondern genauso ein Stück vom Kuchen oder gar die ganze Bäckerei zu fordern, wie nicht-behinderte Menschen das auch tun. Das beinhaltet auch, dass Menschen mit Behinderung das Recht haben, Arschlöcher zu sein. Und das beinhaltet auch die Erkenntnis, dass Inklusion nicht Bullerbü ist, sondern ein Auseinandersetzen und Aushalten von Widersprüchen, Konflikten und Streit, die uns alle weiterbilden werden. 

Das ist notwendig. Inklusion ist nicht Bullerbü, also kein Ort der Idylle, wo wir uns alle lieb haben. Inklusion ist das Annehmen und das Aushalten von menschlicher Vielfalt. 

Intersektionalität: Rassismus im Bildungssystem 

Der Mittendrin e. V. hat vor einigen Jahren einen jungen Mann aus einer Roma-Familie aus Serbien vertreten, Nenad Mihailovic. Ihm wurde, als er in Deutschland eingeschult wurde, eine Lernbehinderung attestiert und er landete auf einer Förderschule. Er hat sich seine ganze Schulzeit über, 12 Jahre lang, gegen die Einstufung gewehrt und klagte schließlich gegen den Staat. Am Ende seiner Schulzeit hat er vom Gericht recht bekommen. Das Bundesland NRW muss ihm nun wegen versäumter Lebensmöglichkeiten Schadensersatz zahlen. Der Mittendrin e. V. stellt die Frage: Wie rassistisch ist eigentlich unser Bildungssystem, wenn Menschen, die aus dem Balkan oder dem nicht-europäischen Ausland kommen, attestiert wird, dass sie, weil sie nicht so gut Deutsch sprechen, eine geistige Behinderung haben? Und ich möchte, dass wir ganz genau hinschauen, wenn wir Förderschulen dafür feiern, dass sie Kindern mit Behinderung einen Schutz- und Schonraum geben: Wen schützen und schonen wir wirklich? Wir schützen und schonen sicher nicht die Menschen mit Behinderung dort, denn je länger sie dort drin sind, desto größer ist der Leistungsabstand zur Mehrheitsgesellschaft. Das sind Sackgassen und Schonraumfallen. In Wirklichkeit schützen wir die Mehrheitsgesellschaft permanent davor, sich mit dem Thema Vielfalt auseinanderzusetzen. Nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“. 

Ich möchte, dass wir hier gemeinsam einen Schatz an Wissen aufbauen und damit losziehen. Und wenn ihr eure Kinder morgen oder am Montag zur Schule schickt, oder in die Kita, fragt doch mal die Leitung, warum euer Kind ohne Behinderung nicht das Recht hat, mit behinderten Kindern zusammen zu lernen.



Eine Antwort zu “Inklusive Hochschule? – Wie der Bildungssektor Menschen mit Behinderung ausklammert”

  1. Hi Raul, danke für deine, für mich als Frau mit Behinderung, sehr wertvolle Arbeit und die schlauen, teils witzigen Texte. Dein neues Buch hab ich in einem Rutsch durchgelesen. Danke nochmal fürs schicken. LG S.

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